Der Fluchtgedanke:
1961 hatten die Eltern den 14-jährigen aus Gleina bei Zeitz in den Ferien zur Tante nach Westberlin geschickt. Von dort kehrte er am 12. August 1961 nach Zeitz zurück. Der erlebte Unterschied zwischen dem Leben im Westen und in der aufgeputschten DDR hinterließ in ihm einen nachhaltigen Eindruck. Und es ließ bereits zwei Jahre später in dem 16- jährigen den Gedanken reifen, der DDR den Rücken zu kehren und “abzuhauen”. Er beschloß, das Regime zu täuschen.
Bei der Wehrerfassung 1966 stellte ihm ein Major die üblichen Fragen nach seiner Mitgliedschaft in den Massenorganisationen und nach Verwandten im Westen. Er nannte die Tante in Westberlin und Verwandte in Gelsenkirchen, mit denen man im Briefverkehr stehe. Und auf die Frage, zu welcher Waffengattung er denn gerne ging, antwortete er: “Stecken sie mich dahin, wo ich gebraucht werde.” Er kam an die Grenze. H. P. arbeitete nun zielstrebig auf seine Flucht hin.
Zur Ausbildung kam er im Mai 1967 nach Dingelstädt im Huy. Dort verhielt er sich so vorbildlich, dass er sich für den Einsatz an der vordersten Linie empfahl. Am Ende der Ausbildung wurde er als >bester Soldat< ausgezeichnet. Seine Schießleistung hatte er aber im Hinblick auf etwaigen Schusswaffeneinsatz im Ernstfall bewusst niedrig gehalten. Außerdem musste er dadurch nicht die silberne Schießschnur an der Uniform tragen, die ihn als guten Schützen ausgewiesen hätte, und bei der Bevölkerung diskreditiert hätte. Auf die Frage, in welchem Ort er denn nun eingesetzt werden wolle, antwortete er wieder: “Wo ich gebraucht werde.” So vertraute man ihm und er kam nach Hötensleben.
Das hier draußen nicht alles so heiß gegessen wurde, wie er es bei der Ausbildung gelernt hatte, merkte er gleich beim ersten Grenzdienst, denn da befahl ihm der Postenführer zu wachen, während er sich selber schlafen legte. Nach drei Wochen hatte er ein ungefähres Bild von den Dienstgepflogenheiten an der Grenze und bereitete sich nun auf die Flucht vor. Erster Fluchtversuch im November 1967. Er hatte sich vorgenommen, dabei nicht zu schießen und zu töten. Schlaftabletten sollten das ermöglichen. Den ersten Wochenendurlaub nach 8 Wochen Grenze wollte er benutzen, um sich die Tabletten, die ja rezeptpflichtig waren, durch seinen Kumpel in Tröglitz beschaffen zu lassen. Der wollte ihn zwar von seiner Fluchtabsicht abbringen, auch weil die zu gefährlich sei, versprach aber dennoch zu helfen.
Zum anderen hatte er sich vorgenommen, dort durchzubrechen, wo das Risiko am geringsten sei. Dazu boten sich in dem 3,2 km langen Grenzabschnitt der 9. Kompanie, den er nun hinreichend genau kannte, zwei Stellen an, bei denen es weder eine Minen- noch eine Hundetrasse gab: Am südlichen Ortsende zwischen Eisenbahnbrücke und Feldscheunenweg, und am nördlichen Ortsende im Bereich des Kippenhanges. An der Eisenbahnbrücke war der 2,8 M hohe Grenzzaun aus Streckmetall und auf der Kippe der doppelte Stacheldrahtzaun das einzige Hindernis. Beim zweiten Wochenendurlaub bekam er die Tabletten. Den schmerzlichen Abschied vom Freund wird er nie vergessen. Beim dritten Wochenendurlaub nahm H. P. in Tröglitz bei Zeitz, als ehemaliger Kapitän seiner Mannschaft an einem Fußballspiel teil, zu dem auch eine Mannschaft aus Herten in NRW gekommen war. Natürlich war Westkontakt für einen Grenzer verboten, aber er wagte es trotzdem. Bei der Abschlußfeier bat er den Vereinspräsidenten der Hertener für ein paar Minuten nach draußen. Dort eröffnete er diesem, dass er an der Grenze sei und die Absicht habe, zwischen Mai und Juni 1968 zu flüchten. Eine Karte, die er in Magdeburg auf dem Bahnhof aus einem Kursbuch heraus gerissen hatte, konnte er nun übergeben, um darauf den Fluchtort Hötensleben zu zeigen.
Der Hertener möge den BGS darüber unterrichten, damit im Fluchtmoment ein BGS-Mann zur Stelle ist, der ihn schützen kann. Erkennungszeichen sei ein quer aufgesetztes Käppi. Freilich war es ein großes Risiko, diesen fremden Menschen zu vertrauen! “Sie können sich darauf verlassen”, versicherte der Westgast. Noch am gleichen Tage schrieb er seine Fluchtabsicht in einem Brief handschriftlich an Verwandte in Gelsenkirchen. Obwohl seine Mutter, die den Briefinhalt nicht kannte, Absender und Adresse geschrieben hatte, war das angesichts der bekannten Briefschnüffelei der Stasi ein unglaublicher Leichtsinn. Zum Glück blieb das folgenlos. In der Kaserne hatte sich H. Pl im Küchendienst bewährt. Dort fand er die Möglichkeit, die Tabletten unbemerkt zu zerreiben.
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